Die Mitgliedstaaten des Europarats
und die anderen Unterzeichner dieses Übereinkommens,
eingedenk der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(SEV Nr. 5, 1950)3 und ihrer Protokolle, der Europäischen Sozialcharta (SEV
Nr. 35, 1961, geändert 1996, SEV Nr. 163), des Übereinkommens des Europarats
zur Bekämpfung des Menschenhandels (SEV Nr. 197, 2005)4 und des Übereinkommens
des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem
Missbrauch (SEV Nr. 201, 2007)5;
eingedenk der folgenden Empfehlungen des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten
des Europarats: Empfehlung Rec (2002)5 zum Schutz von Frauen vor Gewalt,
Empfehlung CM/Rec (2007)17 zu Normen und Mechanismen zur Gleichstellung
von Frauen und Männern, Empfehlung CM/Rec (2010)10 zur Rolle von Frauen und
Männern in der Konfliktverhütung und -lösung sowie der Friedenskonsolidierung
und sonstige einschlägige Empfehlungen;
unter Berücksichtigung der immer umfangreicheren Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte, durch die wichtige Normen auf dem Gebiet
der Gewalt gegen Frauen gesetzt werden;
in Anbetracht des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte
(1966)6, des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966)7, des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau («CEDAW», 1979)8 und seines Fakultativprotokolls
(1999)9 sowie der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 des CEDAW-Ausschusses für
die Beseitigung der Diskriminierung der Frau zur Gewalt gegen Frauen, des Übereinkommens
der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (1989)10 und seiner
Fakultativprotokolle (2000)11 und des Übereinkommens der Vereinten Nationen
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2006)12;
unter Berücksichtigung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs
(2002)13;
eingedenk der Grundsätze des humanitären Völkerrechts und insbesondere des
IV. Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (1949)14
sowie der Zusatzprotokolle I und II (1977)15 hierzu;
unter Verurteilung aller Formen von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt;
in Anerkennung der Tatsache, dass die Verwirklichung der rechtlichen und der
tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ein wesentliches Element der
Verhütung von Gewalt gegen Frauen ist;
in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch
gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die
zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung
der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben;
in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische
Gewalt strukturellen Charakter hat, sowie der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen
einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete
Position gegenüber Männern gezwungen werden;
mit grosser Sorge feststellend, dass Frauen und Mädchen häufig schweren Formen
von Gewalt wie häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung, Vergewaltigung, Zwangsverheiratung,
im Namen der sogenannten «Ehre» begangener Verbrechen und Genitalverstümmelung
ausgesetzt sind, die eine schwere Verletzung der Menschenrechte
von Frauen und Mädchen sowie ein Haupthindernis für das Erreichen der Gleichstellung
von Frauen und Männern darstellen;
in Anbetracht der fortdauernden Menschenrechtsverletzungen während bewaffneter
Konflikte, welche die Zivilbevölkerung und insbesondere Frauen in Form von weit
verbreiteter oder systematischer Vergewaltigung und sexueller Gewalt betreffen,
sowie der höheren Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifischer Gewalt sowohl
während als auch nach Konflikten; in der Erkenntnis, dass Frauen und Mädchen einer grösseren Gefahr von geschlechtsspezifischer
Gewalt ausgesetzt sind als Männer;
in der Erkenntnis, dass häusliche Gewalt Frauen unverhältnismässig stark betrifft
und dass auch Männer Opfer häuslicher Gewalt sein können;
in der Erkenntnis, dass Kinder Opfer häuslicher Gewalt sind, auch als Zeuginnen
und Zeugen von Gewalt in der Familie;
in dem Bestreben, ein Europa zu schaffen, das frei von Gewalt gegen Frauen und
häuslicher Gewalt ist,
sind wie folgt übereingekommen:
Art. 1 Zweck des Übereinkommens
1 Zweck dieses Übereinkommens ist es:
a. Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen
und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen;
b. einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu
leisten und eine echte Gleichstellung von Frauen und Männern, auch durch
die Stärkung der Rechte der Frauen, zu fördern;
c. einen umfassenden Rahmen sowie umfassende politische und sonstige
Massnahmen zum Schutz und zur Unterstützung aller Opfer von Gewalt gegen
Frauen und häuslicher Gewalt zu entwerfen;
d. die internationale Zusammenarbeit im Hinblick auf die Beseitigung von
Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu fördern;
e. Organisationen und Strafverfolgungsbehörden zu helfen und sie zu unterstützen,
um wirksam mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, einen umfassenden
Ansatz für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
anzunehmen.
2 Um die wirksame Durchführung dieses Übereinkommens durch die Vertragsparteien
sicherzustellen, wird durch dieses Übereinkommen ein besonderer Überwachungsmechanismus
eingeführt.
Art. 2 Geltungsbereich des Übereinkommens
1 Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf alle Formen von Gewalt gegen
Frauen, einschliesslich der häuslichen Gewalt, die Frauen unverhältnismässig stark
betrifft.
2 Die Vertragsparteien werden ermutigt, dieses Übereinkommen auf alle Opfer
häuslicher Gewalt anzuwenden. Die Vertragsparteien richten bei der Durchführung
dieses Übereinkommens ein besonderes Augenmerk auf Frauen, die Opfer geschlechtsspezifischer
Gewalt geworden sind.
3 Dieses Übereinkommen findet in Friedenszeiten und in Situationen bewaffneter
Konflikte Anwendung.
Art. 3 Begriffsbestimmungen
Im Sinne dieses Übereinkommens:
a. wird der Begriff «Gewalt gegen Frauen» als eine Menschenrechtsverletzung
und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden und bezeichnet alle
Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen,
psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen
oder führen können, einschliesslich der Androhung solcher Handlungen, der
Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen
oder privaten Leben;
b. bezeichnet der Begriff «häusliche Gewalt» alle Handlungen körperlicher,
sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie
oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten
oder Partnerinnen beziehungsweise Partnern vorkommen, unabhängig davon,
ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das
Opfer hat oder hatte;
c. bezeichnet der Begriff «Geschlecht» die gesellschaftlich geprägten Rollen,
Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft
als für Frauen und Männer angemessen ansieht;
d. bezeichnet der Begriff «geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen» Gewalt,
die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen
unverhältnismässig stark betrifft;
e. bezeichnet der Begriff «Opfer» eine natürliche Person, die Gegenstand des
unter den Buchstaben a und b beschriebenen Verhaltens ist;
f. umfasst der Begriff «Frauen» auch Mädchen unter achtzehn Jahren.
Art. 4 Grundrechte, Gleichstellung und Nichtdiskriminierung
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen
Massnahmen zur Förderung und zum Schutz des Rechts jeder Person, insbesondere
von Frauen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich frei von Gewalt zu
leben.
2 Die Vertragsparteien verurteilen jede Form von Diskriminierung der Frau und
treffen unverzüglich die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Massnahmen
zu ihrer Verhütung, insbesondere durch:
Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. BBl 2017
Übereink. des Europarats
285
– die Verankerung des Grundsatzes der Gleichstellung von Frauen und Männern
in ihren nationalen Verfassungen oder in anderen geeigneten Rechtsvorschriften
sowie die Sicherstellung der tatsächlichen Verwirklichung dieses
Grundsatzes;
– das Verbot der Diskriminierung der Frau, soweit erforderlich auch durch
Sanktionen;
– die Aufhebung aller Gesetze und die Abschaffung von Vorgehensweisen,
durch die Frauen diskriminiert werden.
3 Die Durchführung dieses Übereinkommens durch die Vertragsparteien, insbesondere
von Massnahmen zum Schutz der Rechte der Opfer, ist ohne Diskriminierung
insbesondere wegen des biologischen oder sozialen Geschlechts, der Rasse, der
Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung,
der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit,
des Vermögens, der Geburt, der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität,
des Alters, des Gesundheitszustands, einer Behinderung, des Familienstands,
des Migranten- oder Flüchtlingsstatus oder des sonstigen Status
sicherzustellen.
4 Besondere Massnahmen, die zur Verhütung von geschlechtsspezifischer Gewalt
und zum Schutz von Frauen vor solcher Gewalt erforderlich sind, gelten nicht als
Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.
Art. 5 Verpflichtungen der Staaten und Sorgfaltspflicht
1 Die Vertragsparteien unterlassen jede Beteiligung an Gewalttaten gegen Frauen
und stellen sicher, dass staatliche Behörden, Beschäftigte, Einrichtungen und sonstige
im Auftrag des Staates handelnde Personen im Einklang mit dieser Verpflichtung
handeln.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen
Massnahmen, um ihrer Sorgfaltspflicht zur Verhütung, Untersuchung und Bestrafung
von in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Gewalttaten, die
von Personen, die nicht im Auftrag des Staates handeln, begangen wurden, und zur
Bereitstellung von Entschädigung für solche Gewalttaten nachzukommen.
Art. 6 Geschlechtersensible politische Massnahmen
Die Vertragsparteien verpflichten sich, die Geschlechterperspektive in die Durchführung
und in die Bewertung der Auswirkungen dieses Übereinkommens einzubeziehen
und politische Massnahmen der Gleichstellung von Frauen und Männern und
der Stärkung der Rechte der Frauen zu fördern und wirksam umzusetzen.
Art. 7 Umfassende und koordinierte politische Massnahmen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen
Massnahmen, um landesweit wirksame, umfassende und koordinierte politische
Massnahmen zu beschliessen und umzusetzen, die alle einschlägigen Massnahmen
zur Verhütung und Bekämpfung aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallenden Formen von Gewalt umfassen, und um eine ganzheitliche Antwort
auf Gewalt gegen Frauen zu geben.
2 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass die in Absatz 1 genannten politischen
Massnahmen die Rechte des Opfers in den Mittelpunkt aller Massnahmen stellen
und mittels einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen allen einschlägigen Behörden,
Einrichtungen und Organisationen umgesetzt werden.
3 Nach Massgabe dieses Artikels getroffene Massnahmen beziehen gegebenenfalls
alle einschlägigen Akteure wie Regierungsstellen, nationale, regionale und lokale
Parlamente und Behörden, nationale Menschenrechtsinstitutionen und zivilgesellschaftliche
Organisationen ein.
Art. 8 Finanzielle Mittel
Die Vertragsparteien stellen angemessene finanzielle und personelle Mittel bereit für
die geeignete Umsetzung von ineinandergreifenden politischen und sonstigen Massnahmen
sowie Programmen zur Verhütung und Bekämpfung aller in den Geltungsbereich
dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt, einschliesslich der
von nichtstaatlichen Organisationen und der Zivilgesellschaft durchgeführten Massnahmen
und Programme.
Art. 9 Nichtstaatliche Organisationen und Zivilgesellschaft
Die Vertragsparteien anerkennen, fördern und unterstützen auf allen Ebenen die
Arbeit einschlägiger nichtstaatlicher Organisationen und der Zivilgesellschaft, die
Gewalt gegen Frauen aktiv bekämpfen, und begründen eine wirkungsvolle Zusammenarbeit
mit diesen Organisationen.
Art. 10 Koordinationsstelle
1 Die Vertragsparteien benennen oder errichten eine oder mehrere offizielle Stellen,
die für die Koordinierung, Umsetzung, Beobachtung und Bewertung der politischen
und sonstigen Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung aller von diesem Übereinkommen
erfassten Formen von Gewalt zuständig sind. Diese Stellen koordinieren
die in Artikel 11 genannte Datensammlung sowie analysieren und verbreiten ihre
Ergebnisse.
2 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass die nach diesem Artikel benannten oder
errichteten Stellen allgemeine Informationen über nach Massgabe des Kapitels VIII
getroffene Massnahmen erhalten.
3 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass die nach diesem Artikel benannten oder
errichteten Stellen die Möglichkeit haben, mit den ihnen entsprechenden Stellen in
anderen Vertragsparteien direkt zu kommunizieren und den Kontakt zu pflegen.
Art. 11 Datensammlung und Forschung
1 Für die Zwecke der Durchführung dieses Übereinkommens verpflichten sich die
Vertragsparteien:
a. in regelmässigen Abständen einschlägige genau aufgeschlüsselte statistische
Daten über Fälle von allen in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallenden Formen von Gewalt zu sammeln;
b. die Forschung auf dem Gebiet aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallenden Formen von Gewalt zu fördern, um ihre eigentlichen
Ursachen und ihre Auswirkungen, ihr Vorkommen und die Verurteilungsquote
sowie die Wirksamkeit der zur Durchführung dieses Übereinkommens
getroffenen Massnahmen zu untersuchen.
2 Die Vertragsparteien bemühen sich, in regelmässigen Abständen bevölkerungsbezogene
Studien durchzuführen, um die Verbreitung und Entwicklung aller in den
Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt zu bewerten.
3 Die Vertragsparteien stellen der in Artikel 66 genannten Expertengruppe die nach
diesem Artikel gesammelten Daten zur Verfügung, um die internationale Zusammenarbeit
anzuregen und einen internationalen Vergleich zu ermöglichen.
4 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass die nach diesem Artikel gesammelten
Daten der Öffentlichkeit zugänglich sind.
Art. 12 Allgemeine Verpflichtungen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Massnahmen, um Veränderungen
von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern mit dem
Ziel zu bewirken, Vorurteile, Bräuche, Traditionen und alle sonstigen Vorgehensweisen,
die auf der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen
für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen
Massnahmen, um alle in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden
Formen von Gewalt durch natürliche oder juristische Personen zu verhüten.
3 Alle nach diesem Artikel getroffenen Massnahmen müssen speziellen Bedürfnisse
von Personen, die durch besondere Umstände schutzbedürftig geworden sind, berücksichtigen und sich mit diesen befassen und die Menschenrechte aller Opfer in
den Mittelpunkt stellen.
4 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Massnahmen, um alle Mitglieder
der Gesellschaft, insbesondere Männer und Knaben, zur aktiven Beteiligung an der
Verhütung aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen
von Gewalt zu ermutigen.
5 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass Kultur, Bräuche, Religion, Tradition oder
die sogenannte «Ehre» nicht als Rechtfertigung für in den Geltungsbereich dieses
Übereinkommens fallende Gewalttaten angesehen werden.
6 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Massnahmen, um Programme und
Aktivitäten zur Stärkung der Rechte der Frauen zu fördern.
Art. 13 Bewusstseinsbildung
1 Die Vertragsparteien fördern regelmässig Kampagnen oder Programme zur Bewusstseinsbildung
auf allen Ebenen oder führen solche durch, gegebenenfalls auch
in Zusammenarbeit mit nationalen Menschenrechtsinstitutionen und Gleichstellungsorganen,
der Zivilgesellschaft und nichtstaatlichen Organisationen, insbesondere
mit Frauenorganisationen, um damit in der breiten Öffentlichkeit das Bewusstsein
und das Verständnis für die unterschiedlichen Erscheinungsformen aller in den
Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt, ihre Auswirkungen
auf Kinder und die Notwendigkeit, solche Gewalt zu verhüten, zu verbessern.
2 Die Vertragsparteien stellen die umfassende Verbreitung von Informationen über
Massnahmen, die verfügbar sind, um in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallende Gewalttaten zu verhüten, in der breiten Öffentlichkeit sicher.
Art. 14 Bildung
1 Die Vertragsparteien treffen gegebenenfalls die erforderlichen Massnahmen, um an
die sich entwickelnden Fähigkeiten der Lernenden angepasste Lehrmittel zu Themen
wie der Gleichstellung von Frauen und Männern, der Aufhebung von Rollenzuweisungen,
gegenseitigem Respekt, gewaltfreier Konfliktlösung in zwischenmenschlichen
Beziehungen, geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und dem Recht auf
die Unversehrtheit der Person in die offiziellen Lehrpläne auf allen Ebenen des
Bildungssystems aufzunehmen.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Massnahmen, um die in Absatz 1
genannten Grundsätze in informellen Bildungsstätten sowie in Sport-, Kultur- und
Freizeiteinrichtungen und in den Medien zu fördern.
Art. 15 Aus- und Fortbildung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen
1 Die Vertragsparteien schaffen für Angehörige der Berufsgruppen, die mit Opfern
oder Tätern aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Gewalttaten
zu tun haben, ein Angebot an geeigneten Aus- und Fortbildungsmassnahmen
Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. BBl 2017
Übereink. des Europarats
289
zur Verhütung und Aufdeckung solcher Gewalt, zur Gleichstellung von Frauen und
Männern, zu den Bedürfnissen und Rechten der Opfer sowie zur Verhinderung der
sekundären Viktimisierung, oder bauen diese Angebote aus.
2 Die Vertragsparteien ermutigen dazu, dass die in Absatz 1 genannten Aus- und
Fortbildungsmassnahmen auch Aus- und Fortbildungsmassnahmen zur koordinierten
behördenübergreifenden Zusammenarbeit umfassen, um bei in den Geltungsbereich
dieses Übereinkommens fallenden Gewalttaten einen umfassenden und geeigneten
Umgang mit Weiterverweisungen zu ermöglichen.
Art. 16 Vorbeugende Interventions- und Behandlungsprogramme
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um Programme einzurichten oder zu unterstützen, die darauf abzielen,
Täter und Täterinnen häuslicher Gewalt zu lehren, in zwischenmenschlichen Beziehungen
ein gewaltfreies Verhalten anzunehmen, um weitere Gewalt zu verhüten und
von Gewalt geprägte Verhaltensmuster zu verändern.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um Behandlungsprogramme einzurichten oder zu unterstützen, die
darauf abzielen zu verhindern, dass Täter und Täterinnen, insbesondere Sexualstraftäter
und -täterinnen, erneut Straftaten begehen.
3 Bei den in den Absätzen 1 und 2 genannten Massnahmen stellen die Vertragsparteien
sicher, dass die Sicherheit, die Unterstützung und die Menschenrechte der
Opfer ein vorrangiges Anliegen sind und dass diese Programme gegebenenfalls in
enger Zusammenarbeit mit spezialisierten Hilfsdiensten für Opfer ausgearbeitet und
umgesetzt werden.
Art. 17 Beteiligung des privaten Sektors und der Medien
1 Die Vertragsparteien ermutigen den privaten Sektor, den Bereich der Informationsund
Kommunikationstechnologien und die Medien, sich unter gebührender Beachtung
der freien Meinungsäusserung und ihrer Unabhängigkeit an der Ausarbeitung
und Umsetzung von politischen Massnahmen zu beteiligen sowie Richtlinien und
Normen der Selbstregulierung festzulegen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten
und die Achtung ihrer Würde zu erhöhen.
2 Die Vertragsparteien entwickeln und fördern in Zusammenarbeit mit Akteuren des
privaten Sektors bei Kindern, Eltern, Erzieherinnen und Erziehern Fähigkeiten für
den Umgang mit dem Informations- und Kommunikationsumfeld, das Zugang zu
herabwürdigenden Inhalten sexueller oder gewalttätiger Art bietet, die schädlich sein
können.
Art. 18 Allgemeine Verpflichtungen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um alle Opfer vor weiteren Gewalttaten zu schützen.
2 Die Vertragsparteien treffen im Einklang mit dem internen Recht die erforderlichen
gesetzgeberischen oder sonstigen Massnahmen, um sicherzustellen, dass es
geeignete Mechanismen für eine wirksame Zusammenarbeit zwischen allen einschlägigen
staatlichen Stellen, einschliesslich der Justiz, der Staatsanwaltschaften,
Strafverfolgungsbehörden, lokalen und regionalen Behörden, und nichtstaatlichen
Organisationen und sonstigen einschlägigen Organisationen und Stellen beim Schutz
und bei der Unterstützung von Opfern und Zeuginnen und Zeugen aller in den
Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt gibt; dies
kann auch durch die Verweisung an allgemeine und spezialisierte Hilfsdienste, wie
sie in den Artikeln 20 und 22 beschrieben werden.
3 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass nach Massgabe dieses Kapitels getroffene
Massnahmen:
– auf einem geschlechtsbewussten Verständnis von Gewalt gegen Frauen und
häuslicher Gewalt beruhen und die Menschenrechte und die Sicherheit des
Opfers in den Mittelpunkt stellen;
– auf einem umfassenden Ansatz beruhen, bei dem das Verhältnis zwischen
Opfern, Tätern beziehungsweise Täterinnen, Kindern und ihrem weiteren
sozialen Umfeld berücksichtigt wird;
– die Verhinderung der sekundären Viktimisierung zum Ziel haben;
– die Stärkung der Rechte und die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen
zum Ziel haben, die Opfer von Gewalt geworden sind;
– gegebenenfalls die Unterbringung verschiedener Schutz- und Hilfsdienste in
denselben Gebäuden ermöglichen;
– auf die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen, einschliesslich
der Opfer, die Kinder sind, eingehen und diesen Personen zugänglich gemacht
werden.
4 Die Bereitstellung von Diensten darf nicht von der Bereitschaft des Opfers abhängen,
Anzeige zu erstatten oder gegen den Täter beziehungsweise die Täterin auszusagen.
5 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Massnahmen, um im Einklang mit
ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen ihren Staatsangehörigen und sonstigen zu
einem solchen Schutz berechtigten Opfern konsularischen und sonstigen Schutz
sowie Unterstützung zu gewähren.
Art. 19 Informationen
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Opfer angemessen und rechtzeitig über
verfügbare Hilfsdienste und rechtliche Massnahmen in einer ihnen verständlichen
Sprache informiert werden.
Art. 20 Allgemeine Hilfsdienste
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Opfer Zugang zu Diensten erhalten, die ihre
Genesung nach Gewalt erleichtern. Diese Massnahmen sollen, sofern erforderlich,
Dienste wie rechtliche und psychologische Beratung, finanzielle Unterstützung,
Unterkunft, Ausbildung, Schulung sowie Unterstützung bei der Arbeitssuche umfassen.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Opfer Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten
haben, dass Dienste über angemessene Mittel verfügen und dass Angehörige
bestimmter Berufsgruppen geschult werden, um die Opfer zu unterstützen und sie
an die geeigneten Dienste zu verweisen.
Art. 21 Unterstützung bei Einzel- oder Sammelklagen
Die Vertragsparteien stellen sicher, dass Opfer Informationen über geltende regionale
und internationale Mechanismen für Einzel- oder Sammelklagen und Zugang
zu diesen haben. Die Vertragsparteien fördern die Bereitstellung einfühlsamer und
sachkundiger Unterstützung für die Opfer bei der Einreichung solcher Klagen.
Art. 22 Spezialisierte Hilfsdienste
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um in angemessener geografischer Verteilung spezialisierte Hilfsdienste
für sofortige sowie kurz- und langfristige Hilfe für alle Opfer von in den
Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Gewalttaten bereitzustellen oder
für deren Bereitstellung zu sorgen.
2 Die Vertragsparteien stellen für alle Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, und
ihre Kinder spezialisierte Hilfsdienste bereit oder sorgen für deren Bereitstellung.
Art. 23 Schutzunterkünfte
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um die Einrichtung von geeigneten, leicht zugänglichen Schutzunterkünften
in ausreichender Zahl zu ermöglichen, um Opfern, insbesondere Frauen und
ihren Kindern, eine sichere Unterkunft zur Verfügung zu stellen und aktiv auf Opfer
zuzugehen.
Art. 24 Telefonberatung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um eine kostenlose, landesweite und täglich rund um die Uhr erreichbare
Telefonberatung einzurichten, um Anruferinnen und Anrufer vertraulich oder
unter Berücksichtigung ihrer Anonymität im Zusammenhang mit allen in den Geltungsbereich
dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt zu beraten.
Art. 25 Unterstützung für Opfer sexueller Gewalt
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um die Einrichtung von geeigneten, leicht zugänglichen Krisenzentren
für Opfer von Vergewaltigung und sexueller Gewalt in ausreichender Zahl zu ermöglichen,
um Opfern medizinische und gerichtsmedizinische Untersuchungen,
Traumahilfe und Beratung anzubieten.
Art. 26 Schutz und Unterstützung für Zeuginnen und Zeugen,
die Kinder sind
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass bei der Bereitstellung von Schutz- und Hilfsdiensten
für Opfer die Rechte und Bedürfnisse von Kindern, die Zeuginnen und
Zeugen von in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von
Gewalt geworden sind, gebührend berücksichtigt werden.
2 Nach diesem Artikel getroffene Massnahmen umfassen die altersgerechte psychosoziale
Beratung für Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von in den Geltungsbereich
dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt geworden sind, und berücksichtigen
gebührend das Wohl des Kindes.
Art. 27 Meldung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Massnahmen, um alle Personen, die
Zeuginnen beziehungsweise Zeugen der Begehung einer in den Geltungsbereich
dieses Übereinkommens fallenden Gewalttat geworden sind oder die ernsthafte
Gründe für die Annahme haben, dass eine solche Tat begangen werden könnte oder
weitere Gewalttaten zu erwarten sind, zu ermutigen, dies den zuständigen Organisationen
oder Behörden zu melden.
Art. 28 Meldung durch Angehörige bestimmter Berufsgruppen
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen Massnahmen, um sicherzustellen,
dass die Vorschriften über die Vertraulichkeit, die nach dem internen Recht für
Angehörige bestimmter Berufsgruppen gelten, diesen Personen nicht die Möglichkeit
nehmen, unter gegebenen Umständen eine Meldung an die zuständigen Organisationen
und Behörden zu machen, wenn sie ernsthafte Gründe für die Annahme
haben, dass eine schwere in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende
Gewalttat begangen worden ist und weitere schwere Gewalttaten zu erwarten sind.
Art. 29 Zivilverfahren und Rechtsbehelfe
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um Opfer mit angemessenen zivilrechtlichen Rechtsbehelfen gegen-
über dem Täter beziehungsweise der Täterin auszustatten.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um Opfer im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts
mit angemessenen zivilrechtlichen Ansprüchen gegenüber staatlichen Behörden
auszustatten, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ihrer Pflicht zum Ergreifen
der erforderlichen vorbeugenden Massnahmen oder Schutzmassnahmen nicht nachgekommen
sind.
Art. 30 Schadenersatz und Entschädigung
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Opfer das Recht haben, von Tätern beziehungsweise
Täterinnen für alle nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten
Schadensersatz zu fordern.
2 Eine angemessene staatliche Entschädigung wird denjenigen gewährt, die eine
schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erlitten haben, soweit der
Schaden nicht von anderer Seite, wie dem Täter beziehungsweise der Täterin, einer
Versicherung oder durch staatlich finanzierte Gesundheits- und Sozialmassnahmen,
ersetzt wird. Dies hindert die Vertragsparteien nicht daran, den Täter beziehungsweise
die Täterin für die gewährte Entschädigung in Regress zu nehmen, solange
dabei die Sicherheit des Opfers gebührend berücksichtigt wird.
3 Massnahmen nach Absatz 2 sollen sicherstellen, dass die Entschädigung innerhalb
eines angemessenen Zeitraums gewährt wird.
Art. 31 Sorgerecht, Besuchsrecht und Sicherheit
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und
Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts
nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet.
Art. 32 Zivilrechtliche Folgen der Zwangsheirat
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass unter Zwang geschlossene Ehen ohne eine unangemessene finanzielle oder administrative Belastung für das Opfer anfechtbar
sind, für nichtig erklärt oder aufgelöst werden können.
Art. 33 Psychische Gewalt
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, durch das die psychische
Unversehrtheit einer Person durch Nötigung oder Drohung ernsthaft beeinträchtigt
wird, unter Strafe gestellt wird.
Art. 34 Nachstellung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, das aus wiederholten
Bedrohungen einer anderen Person besteht, die dazu führen, dass diese um ihre
Sicherheit fürchtet, unter Strafe gestellt wird.
Art. 35 Körperliche Gewalt
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, durch das einer
anderen Person körperliche Gewalt angetan wird, unter Strafe gestellt wird.
Art. 36 Sexuelle Gewalt, einschliesslich Vergewaltigung
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass folgendes vorsätzliches Verhalten unter
Strafe gestellt wird:
a. nicht einverständliches, sexuell bestimmtes vaginales, anales oder orales
Eindringen in den Körper einer anderen Person mit einem Körperteil oder
Gegenstand;
b. sonstige nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen mit einer anderen
Person;
c. Veranlassung einer Person zur Durchführung nicht einverständlicher sexuell
bestimmter Handlungen mit einer dritten Person.
2 Das Einverständnis der Person muss freiwillig als Ergebnis ihres freien Willens,
der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.
3 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Absatz 1 auch auf Handlungen anwendbar
ist, die gegenüber früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen oder Partnern
im Sinne des internen Rechts begangen wurden.
Art. 37 Zwangsheirat
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten, durch das eine
erwachsene Person oder ein Kind zur Eheschliessung gezwungen wird, unter Strafe
gestellt wird.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzliches Verhalten unter Strafe gestellt
wird, durch das eine erwachsene Person oder ein Kind in das Hoheitsgebiet einer
Vertragspartei oder eines Staates gelockt wird, das nicht das Hoheitsgebiet ihres
beziehungsweise seines Aufenthalts ist, um diese erwachsene Person oder dieses
Kind zur Eheschliessung zu zwingen.
Art. 38 Verstümmelung weiblicher Genitalien
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass folgendes vorsätzliches Verhalten unter
Strafe gestellt wird:
a. Entfernung, Infibulation oder Durchführung jeder sonstigen Verstümmelung
der gesamten grossen oder kleinen Schamlippen oder der Klitoris einer Frau
oder eines Teils davon;
b. ein Verhalten, durch das eine Frau dazu genötigt oder gebracht wird, sich
einer der unter Buchstabe a aufgeführten Handlungen zu unterziehen;
c. ein Verhalten, durch das ein Mädchen dazu verleitet, genötigt oder dazu gebracht
wird, sich einer der unter Buchstabe a aufgeführten Handlungen zu
unterziehen.
Art. 39 Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass folgendes vorsätzliches Verhalten unter
Strafe gestellt wird:
a. Durchführung einer Abtreibung an einer Frau ohne deren vorherige Zustimmung
nach erfolgter Aufklärung;
b. Durchführung eines chirurgischen Eingriffs mit dem Zweck oder der Folge,
dass die Fähigkeit einer Frau zur natürlichen Fortpflanzung ohne deren auf
Kenntnis der Sachlage gegründete Zustimmung zum Verfahren oder Verständnis
dafür beendet wird.
Art. 40 Sexuelle Belästigung
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass jede Form von ungewolltem sexuell bestimmtem
verbalem, nonverbalem oder körperlichem Verhalten mit dem Zweck
oder der Folge, die Würde einer Person zu verletzen, insbesondere wenn dadurch ein Umfeld der Einschüchterung, Feindseligkeit, Erniedrigung, Entwürdigung oder
Beleidigung geschaffen wird, strafrechtlichen oder sonstigen rechtlichen Sanktionen
unterliegt.
Art. 41 Beihilfe oder Anstiftung und Versuch
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um die Beihilfe oder Anstiftung zur Begehung einer der nach den
Artikeln 33, 34, 35, 36, 37, 38 Buchstabe a und 39 umschriebenen Straftaten, wenn
vorsätzlich begangen, als Straftat zu umschreiben.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um den Versuch der Begehung einer der nach den Artikeln 35, 36, 37,
38 Buchstabe a und 39 umschriebenen Straftaten, wenn vorsätzlich begangen, als
Straftat zu umschreiben.
Art. 42 Inakzeptable Rechtfertigungen für Straftaten, einschliesslich der im
Namen der sogenannten «Ehre» begangenen Straftaten
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass in Strafverfahren, die infolge der Begehung
einer der in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Gewalttaten
eingeleitet werden, Kultur, Bräuche, Religion, Tradition oder die sogenannte «Ehre»
nicht als Rechtfertigung für solche Handlungen angesehen werden. Dies bezieht sich
insbesondere auf Behauptungen, das Opfer habe kulturelle, religiöse, soziale oder
traditionelle Normen oder Bräuche bezüglich des angemessenen Verhaltens verletzt.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass das Verleiten eines Kindes durch eine Person,
eine der in Absatz 1 genannten Handlungen zu begehen, die strafrechtliche
Verantwortlichkeit dieser Person für die begangenen Handlungen nicht mindert.
Art. 43 Anwendung der Straftatbestände
Die nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten finden unabhängig von
der Art der Täter-Opfer-Beziehung Anwendung.
Art. 44 Gerichtsbarkeit
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um ihre Gerichtsbarkeit über die nach diesem Übereinkommen umschriebenen
Straftaten zu begründen, wenn die Straftat wie folgt begangen wird:
a. in ihrem Hoheitsgebiet;
b. an Bord eines Schiffes, das die Flagge dieser Vertragsparteien führt;
c. an Bord eines Luftfahrzeugs, das nach dem Recht dieser Vertragsparteien
eingetragen ist;
d. von einem ihrer Staatsangehörigen; oder
e. von einer Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet
hat.
2 Die Vertragsparteien bemühen sich, die erforderlichen gesetzgeberischen oder
sonstigen Massnahmen zu treffen, um ihre Gerichtsbarkeit über die nach diesem
Übereinkommen umschriebenen Straftaten zu begründen, wenn die Straftat gegen
einen ihrer Staatsangehörigen oder eine Person, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in ihrem Hoheitsgebiet hat, begangen wird.
3 Zur Verfolgung der nach den Artikeln 36, 37, 38 und 39 umschriebenen Straftaten
treffen die Vertragsparteien die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die Begründung ihrer Gerichtsbarkeit nicht
davon abhängig ist, dass die Handlungen in dem Hoheitsgebiet, in dem sie begangen
wurden, strafbar sind.
4 Zur Verfolgung der nach den Artikeln 36, 37, 38 und 39 umschriebenen Straftaten
treffen die Vertragsparteien die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die Begründung ihrer Gerichtsbarkeit in
Bezug auf Absatz 1 Buchstaben d und e nicht davon abhängig ist, dass der Strafverfolgung
eine Meldung der Straftat durch das Opfer oder das Einleiten eines Strafverfahrens
durch den Staat, in dem die Straftat begangen wurde, vorausgegangen ist.
5 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um ihre Gerichtsbarkeit über die nach diesem Übereinkommen umschriebenen
Straftaten für den Fall zu begründen, dass der mutmassliche Täter
beziehungsweise die mutmassliche Täterin sich in ihrem Hoheitsgebiet befindet und
sie ihn beziehungsweise sie nur aufgrund seiner beziehungsweise ihrer Staatsangehörigkeit
nicht an eine andere Vertragspartei ausliefern.
6 Wird die Gerichtsbarkeit für eine mutmassliche nach diesem Übereinkommen
umschriebene Straftat von mehr als einer Vertragspartei geltend gemacht, so konsultieren
die beteiligten Vertragsparteien einander, soweit angebracht, um die für die
Strafverfolgung am besten geeignete Gerichtsbarkeit zu bestimmen.
7 Unbeschadet der allgemeinen Regeln des Völkerrechts schliesst dieses Übereinkommen
die Ausübung einer Strafgerichtsbarkeit durch eine Vertragspartei nach
ihrem innerstaatlichen Recht nicht aus.
Art. 45 Sanktionen und Massnahmen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die nach diesem Übereinkommen umschriebenen
Straftaten mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen
bedroht werden, die ihrer Schwere Rechnung tragen. Diese Sanktionen umfassen
gegebenenfalls freiheitsentziehende Massnahmen, die zur Auslieferung führen
können.
2 Die Vertragsparteien können weitere Massnahmen in Bezug auf Täter und Täterinnen
treffen, beispielsweise:
– die Überwachung und Betreuung verurteilter Personen;
– den Entzug der elterlichen Rechte, wenn das Wohl des Kindes, das die Sicherheit
des Opfers umfassen kann, nicht auf andere Weise garantiert werden
kann.
Art. 46 Strafverschärfungsgründe
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die folgenden Umstände, soweit sie nicht
bereits Tatbestandsmerkmale darstellen, im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen
des internen Rechts bei der Festsetzung des Strafmasses für die nach
diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten als erschwerend berücksichtigt
werden können:
a. die Straftat wurde gegen eine frühere oder derzeitige 16Ehefrau oder Partnerin
im Sinne des internen Rechts beziehungsweise gegen einen früheren oder
derzeitigen Ehemann oder Partner im Sinne des internen Rechts oder von einem
Familienmitglied, einer mit dem Opfer zusammenlebenden Person oder
einer ihre Autoritätsstellung missbrauchenden Person begangen;
b. die Straftat oder mit ihr in Zusammenhang stehende Straftaten wurden wiederholt
begangen;
c. die Straftat wurde gegen eine aufgrund besonderer Umstände schutzbedürftig
gewordene Person begangen;
d. die Straftat wurde gegen ein Kind oder in dessen Gegenwart begangen;
e. die Straftat wurde von zwei oder mehr Personen gemeinschaftlich begangen;
f. der Straftat ging eine extrem schwere Gewalt voraus oder mit ihr einher;
g. die Straftat wurde unter Einsatz oder Drohung mit einer Waffe begangen;
h. die Straftat führte zu schweren körperlichen oder psychischen Schäden beim
Opfer;
i. der Täter beziehungsweise die Täterin ist bereits wegen ähnlicher Straftaten
verurteilt worden.
Art. 47 Von einer anderen Vertragspartei erlassene Strafurteile
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um die Möglichkeit vorzusehen, bei der Festsetzung des Strafmasses
die von einer anderen Vertragspartei erlassenen rechtskräftigen Strafurteile wegen
nach diesem Übereinkommen umschriebener Straftaten zu berücksichtigen.
Art. 48 Verbot verpflichtender alternativer Streitbeilegungsverfahren
oder Strafurteile
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um verpflichtende alternative Streitbeilegungsverfahren, einschliesslich
Mediation und Schlichtung, wegen aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallenden Formen von Gewalt zu verbieten.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass im Fall der Anordnung der Zahlung einer
Geldstrafe die Fähigkeit des Täters, seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber
dem Opfer nachzukommen, gebührend berücksichtigt wird.
Art. 49 Allgemeine Verpflichtungen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Ermittlungen und Gerichtsverfahren im
Zusammenhang mit allen in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden
Formen von Gewalt ohne ungerechtfertigte Verzögerung durchgeführt werden,
wobei die Rechte des Opfers in allen Abschnitten des Strafverfahrens zu berücksichtigen
sind.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um nach den wesentlichen Grundsätzen der Menschenrechte und
unter Berücksichtigung des geschlechtsbewussten Verständnisses von Gewalt wirksame
Ermittlungen wegen und Strafverfolgung von nach diesem Übereinkommen
umschriebenen Straftaten sicherzustellen.
Art. 50 Soforthilfe, Prävention und Schutz
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die zuständigen Strafverfolgungsbehörden
sofort und angemessen auf alle in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallenden Formen von Gewalt reagieren, indem sie den Opfern umgehend geeigneten
Schutz bieten.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass sich die zuständigen Strafverfolgungsbehörden
sofort und angemessen an der Prävention von und am Schutz vor allen in den
Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt beteiligen,
einschliesslich des Einsatzes vorbeugender operativer Massnahmen und der Erhebung
von Beweisen.
Art. 51 Gefährdungsanalyse und Gefahrenmanagement
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass eine Analyse der Gefahr für Leib und Leben
und der Schwere der Situation sowie der Gefahr von wiederholter Gewalt von allen
einschlägigen Behörden vorgenommen wird, um die Gefahr unter Kontrolle zu
bringen und erforderlichenfalls für koordinierte Sicherheit und Unterstützung zu
sorgen.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass bei der in Absatz 1 genannten Analyse in
allen Abschnitten der Ermittlungen und der Anwendung von Schutzmassnahmen
gebührend berücksichtigt wird, ob der Täter beziehungsweise die Täterin einer in
den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Gewalttat Feuerwaffen
besitzt oder Zugang zu ihnen hat.
Art. 52 Eilschutzanordnungen
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die zuständigen Behörden die Befugnis
erhalten, in Situationen unmittelbarer Gefahr anzuordnen, dass ein Täter beziehungsweise
eine Täterin häuslicher Gewalt den Wohnsitz des Opfers oder der gefährdeten
Person für einen ausreichend langen Zeitraum verlässt, und dem Täter
beziehungsweise der Täterin zu verbieten, den Wohnsitz des Opfers oder der gefährdeten
Person zu betreten oder Kontakt mit dem Opfer oder der gefährdeten
Person aufzunehmen. Bei nach Massgabe dieses Artikels getroffenen Massnahmen
ist der Sicherheit der Opfer oder der gefährdeten Personen Vorrang einzuräumen.
Art. 53 Kontakt- und Näherungsverbote sowie Schutzanordnungen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass angemessene Kontakt- und Näherungsverbote
oder Schutzanordnungen für Opfer aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens
fallenden Formen von Gewalt zur Verfügung stehen.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die in Absatz 1 genannten Kontakt- und
Näherungsverbote oder Schutzanordnungen:
– für den sofortigen Schutz und ohne eine unangemessene finanzielle oder
administrative Belastung für die Opfer zur Verfügung stehen;
– für einen bestimmten Zeitraum oder bis zu ihrer Abänderung oder Aufhebung
erlassen werden;
– soweit erforderlich auf Antrag und mit sofortiger Wirkung ausgestellt werden;
– unabhängig von oder zusätzlich zu anderen Gerichtsverfahren zur Verfü-
gung stehen;
– in nachfolgende Gerichtsverfahren eingebracht werden können.
3 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Verstösse gegen die nach Absatz 1 ausgesprochenen
Kontakt- und Näherungsverbote oder Schutzanordnungen Gegenstand
wirksamer, verhältnismässiger und abschreckender strafrechtlicher oder sonstiger
rechtlicher Sanktionen sind.
Art. 54 Ermittlungen und Beweise
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass in Zivil- oder Strafverfahren Beweismittel
betreffend das sexuelle Vorleben und Verhalten des Opfers nur dann zugelassen
werden, wenn sie sachdienlich und notwendig sind.
Art. 55 Verfahren auf Antrag und von Amts wegen
1 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass, wenn die Straftat ganz oder teilweise in
ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde, Ermittlungen wegen oder die Strafverfolgung
von nach den Artikeln 35, 36, 37, 38 und 39 umschriebenen Straftaten nicht vollständig
von einer Meldung oder Anzeige des Opfers abhängig gemacht werden und
das Verfahren fortgesetzt werden kann, auch wenn das Opfer seine Aussage oder
Anzeige zurückzieht.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um nach Massgabe ihres innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, dass
staatliche und nichtstaatliche Organisationen sowie Beraterinnen und Berater bei
häuslicher Gewalt die Möglichkeit erhalten, den Opfern in den Ermittlungen und
Gerichtsverfahren wegen der nach diesem Übereinkommen umschriebenen Straftaten
beizustehen und/oder sie zu unterstützen, wenn diese darum ersuchen.
Art. 56 Schutzmassnahmen
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um die Rechte und Interessen der Opfer, insbesondere ihre besonderen
Bedürfnisse als Zeuginnen und Zeugen, in allen Abschnitten der Ermittlungen
und Gerichtsverfahren zu schützen, indem sie insbesondere:
a. für ihren Schutz sowie den Schutz ihrer Familien und der Zeuginnen und
Zeugen vor Einschüchterung, Vergeltung und davor, erneut Opfer zu werden,
Sorge tragen;
b. sicherstellen, dass die Opfer, zumindest in den Fällen, in denen sie und ihre
Familien in Gefahr sein könnten, über eine Flucht oder eine vorübergehende
oder endgültige Freilassung des Täters beziehungsweise der Täterin unterrichtet
werden;
c. die Opfer nach Massgabe des innerstaatlichen Rechts über ihre Rechte und
die ihnen zur Verfügung stehenden Dienste und über die aufgrund ihrer Anzeige
veranlassten Massnahmen, die Anklagepunkte, den allgemeinen Stand
der Ermittlungen oder des Verfahrens und ihre Rolle sowie die in ihrem Fall
ergangene Entscheidung unterrichten;
d. den Opfern in Übereinstimmung mit den Verfahrensvorschriften des innerstaatlichen
Rechts die Möglichkeit geben, gehört zu werden, Beweismittel
vorzulegen und ihre Ansichten, Bedürfnisse und Sorgen unmittelbar oder
über eine Vermittlerin beziehungsweise einen Vermittler vorzutragen und
prüfen zu lassen;
e. den Opfern geeignete Hilfsdienste zur Verfügung stellen, damit ihre Rechte
und Interessen in gebührender Weise vorgetragen und berücksichtigt werden;
f. sicherstellen, dass Massnahmen zum Schutz der Privatsphäre und des Bildes
des Opfers getroffen werden können;
g. sicherstellen, dass ein Kontakt zwischen Opfern und Tätern beziehungsweise
Täterinnen in den Räumlichkeiten der Gerichte und der Strafverfolgungsbehörden
so weit wie möglich vermieden wird;
h. den Opfern unabhängige und fähige Dolmetscherinnen und Dolmetscher zur
Verfügung stellen, wenn die Opfer im Verfahren als Partei auftreten oder
Beweismittel vorlegen;
i. es den Opfern ermöglichen, in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen
Recht vor Gericht auszusagen, ohne dass sie im Gerichtssaal anwesend sein
müssen oder zumindest ohne dass der mutmassliche Täter beziehungsweise
die mutmassliche Täterin anwesend ist, insbesondere durch den Einsatz geeigneter
Kommunikationstechnologien, soweit diese verfügbar sind.
2 Für Kinder, die Opfer oder Zeuginnen beziehungsweise Zeugen von Gewalt gegen
Frauen und von häuslicher Gewalt geworden sind, werden gegebenenfalls besondere
Schutzmassnahmen unter Berücksichtigung des Wohles des Kindes getroffen.
Art. 57 Rechtsberatung
Die Vertragsparteien sehen das Recht der Opfer auf Rechtsbeistand und auf unentgeltliche
Rechtsberatung für Opfer nach Massgabe ihres internen Rechts vor.
Art. 58 Verjährungsfrist
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die Verjährungsfrist für die Einleitung von
Strafverfahren wegen der nach den Artikeln 36, 37, 38 und 39 umschriebenen Straftaten
ausreichend lang ist und sich über einen der Schwere der betreffenden Straftat
entsprechenden Zeitraum erstreckt, um die tatsächliche Einleitung von Verfahren zu
ermöglichen, nachdem das Opfer volljährig geworden ist.
Art. 59 Aufenthaltsstatus
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass ein Opfer, dessen Aufenthaltsstatus vom
Aufenthaltsstatus seiner Ehefrau oder Partnerin im Sinne des internen Rechts beziehungsweise
seines Ehemanns oder Partners im Sinne des internen Rechts abhängt,
im Fall der Auflösung der Ehe oder Beziehung bei besonders schwierigen Umständen
auf Antrag einen eigenständigen Aufenthaltstitel unabhängig von der Dauer der
Ehe oder Beziehung erhält. Die Bedingungen für die Bewilligung und Dauer des
eigenständigen Aufenthaltstitels werden durch das interne Recht festgelegt.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass beim Opfer Ausweisungsverfahren ausgesetzt
werden können, die in Zusammenhang mit einem Aufenthaltsstatus eingeleitet
wurden, der vom Aufenthaltsstatus seiner Ehefrau oder Partnerin im Sinne des
internen Rechts beziehungsweise seines Ehemanns oder Partners im Sinne des
internen Rechts abhängt, damit es den Opfern ermöglicht wird, einen eigenständigen
Aufenthaltstitel zu beantragen.
3 Die Vertragsparteien erteilen dem Opfer einen verlängerbaren Aufenthaltstitel,
wenn mindestens einer der beiden folgenden Fälle vorliegt:
a. die zuständige Behörde ist der Auffassung, dass der Aufenthalt des Opfers
aufgrund seiner persönlichen Lage erforderlich ist;
b. die zuständige Behörde ist der Auffassung, dass der Aufenthalt des Opfers
für seine Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden bei den Ermittlungen
oder beim Strafverfahren erforderlich ist.
4 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Opfer einer Zwangsheirat, die zum Zwecke
der Verheiratung in einen anderen Staat gebracht wurden und die folglich ihren
Aufenthaltsstatus im Staat ihres gewöhnlichen Aufenthalts verloren haben, diesen
Status wiedererlangen können.
Art. 60 Asylanträge aufgrund des Geschlechts
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts
als eine Form der Verfolgung im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2
des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 195117 und als eine
Form schweren Schadens anerkannt wird, die einen ergänzenden Schutz begründet.
2 Die Vertragsparteien stellen sicher, dass alle im Abkommen aufgeführten Gründe
geschlechtersensibel ausgelegt werden und dass in Fällen, in denen festgestellt wird,
dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet wird, den Antragstellerinnen beziehungsweise den Antragstellern der Flüchtlingsstatus entsprechend
den einschlägigen anwendbaren Übereinkünften gewährt wird.
3 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um geschlechtersensible Aufnahmeverfahren und Hilfsdienste für
Asylsuchende sowie geschlechtsspezifische Leitlinien und geschlechtersensible
Asylverfahren, einschliesslich für die Gewährung des Flüchtlingsstatus und des
Antrags auf internationalen Schutz, auszuarbeiten.
Art. 61 Verbot der Zurückweisung
1 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um den Grundsatz des Verbots der Zurückweisung in Übereinstimmung
mit bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zu achten.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass Opfer von Gewalt gegen Frauen, die des
Schutzes bedürfen, unabhängig von ihrem Status oder Aufenthalt unter keinen
Umständen in einen Staat zurückgewiesen werden, in dem ihr Leben gefährdet wäre
oder in dem sie der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung
oder Strafe unterworfen werden könnten.
Art. 62 Allgemeine Grundsätze
1 Die Vertragsparteien arbeiten untereinander in Übereinstimmung mit diesem
Übereinkommen im grösstmöglichen Umfang zusammen, indem sie einschlägige
internationale und regionale Übereinkünfte über die Zusammenarbeit in zivilen und
strafrechtlichen Angelegenheiten sowie Übereinkünfte, die auf der Grundlage einheitlicher
oder auf Gegenseitigkeit beruhender Rechtsvorschriften getroffen wurden,
und innerstaatliche Rechtsvorschriften für folgende Zwecke anwenden:
a. Verhütung, Bekämpfung und Verfolgung aller in den Geltungsbereich dieses
Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt;
b. Schutz und Unterstützung von Opfern;
c. Ermittlungen oder Verfahren wegen nach diesem Übereinkommen umschriebenen
Straftaten;
d. Vollstreckung einschlägiger von den Justizbehörden der Vertragsparteien
erlassener zivil- und strafrechtlicher Urteile, Entscheidungen und Beschlüsse
einschliesslich Schutzanordnungen.
2 Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Massnahmen, um sicherzustellen, dass die Opfer einer nach diesem Übereinkommen
umschriebenen und im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei, die nicht das
Hoheitsgebiet ist, in dem die Opfer ihren Wohnsitz haben, begangenen Straftat bei
den zuständigen Behörden ihres Wohnsitzstaats Anzeige erstatten können.
3 Erhält eine Vertragspartei, welche die Rechtshilfe in Strafsachen, die Auslieferung
oder die Vollstreckung von durch eine andere Vertragspartei dieses Übereinkommens
erlassenen zivil- und strafrechtlichen Urteilen, Entscheidungen und Beschlüssen
vom Bestehen eines Vertrags abhängig macht, ein Ersuchen um eine solche
rechtliche Zusammenarbeit von einer Vertragspartei, mit der sie keinen entsprechenden
Vertrag hat, so kann sie dieses Übereinkommen als Rechtsgrundlage für die
Rechtshilfe in Strafsachen, die Auslieferung oder die Vollstreckung von durch die
andere Vertragspartei erlassenen zivil- und strafrechtlichen Urteilen, Entscheidungen
und Beschlüssen in Bezug auf die nach diesem Übereinkommen umschriebenen
Straftaten ansehen.
4 Die Vertragsparteien bemühen sich, soweit angemessen, die Verhütung und Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in Entwicklungshilfeprogramme
zugunsten von Drittstaaten aufzunehmen, auch durch den Abschluss
zwei- und mehrseitiger Übereinkünfte mit Drittstaaten im Hinblick auf die Erleichterung
des Schutzes der Opfer im Einklang mit Artikel 18 Absatz 5.
Art. 63 Massnahmen in Bezug auf gefährdete Personen
Hat eine Vertragspartei anhand der ihr zur Verfügung stehenden Informationen
hinreichende Gründe für die Annahme, dass eine Person unmittelbar der Gefahr
ausgesetzt ist, eine der in den Artikeln 36, 37, 38 und 39 genannten Gewalttaten im
Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei zu erleiden, so wird die über die Informationen
verfügende Vertragspartei ermutigt, diese Informationen unverzüglich an
die andere Vertragspartei zu übermitteln, damit sichergestellt wird, dass geeignete
Schutzmassnahmen getroffen werden. Gegebenenfalls umfassen diese Informationen
auch Angaben zu bestehenden Schutzbestimmungen für die gefährdete Person.
Art. 64 Informationen
1 Die ersuchte Vertragspartei unterrichtet die ersuchende Vertragspartei umgehend
über das endgültige Ergebnis der nach diesem Kapitel getroffenen Massnahmen. Die
ersuchte Vertragspartei unterrichtet die ersuchende Vertragspartei ferner umgehend
über alle Umstände, welche die Durchführung der erbetenen Massnahmen unmöglich
machen oder wahrscheinlich erheblich verzögern werden.
2 Eine Vertragspartei kann, soweit ihr internes Recht es erlaubt, ohne vorheriges
Ersuchen einer anderen Vertragspartei Informationen übermitteln, die sie im Rahmen
ihrer eigenen Ermittlungen gewonnen hat, wenn sie der Auffassung ist, dass die
Übermittlung dieser Informationen der Vertragspartei, welche die Informationen
empfängt, bei der Verhütung von nach diesem Übereinkommen umschriebenen
Straftaten oder bei der Einleitung oder Durchführung von Ermittlungen oder Verfahren
wegen solcher Straftaten helfen oder dazu führen könnte, dass diese Vertragspartei
ein Ersuchen um Zusammenarbeit nach diesem Kapitel stellt.
3 Eine Vertragspartei, die Informationen nach Absatz 2 empfängt, legt diese Informationen
ihren zuständigen Behörden vor, damit Verfahren eingeleitet werden
können, wenn sie als angemessen angesehen werden, oder damit diese Informationen
in einschlägigen Zivil- und Strafverfahren berücksichtigt werden können.
Art. 65 Datenschutz
Personenbezogene Daten werden nach Massgabe der Verpflichtungen der Vertragsparteien
aus dem Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen
Verarbeitung personenbezogener Daten (SEV Nr. 108)18 gespeichert und verwendet.
Art. 66 Expertengruppe für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
und häuslicher Gewalt
1 Die Expertengruppe für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher
Gewalt (im Folgenden als «GREVIO» bezeichnet) überwacht die Durchführung
dieses Übereinkommens durch die Vertragsparteien.
2 Die GREVIO besteht aus mindestens 10 und höchstens 15 Mitgliedern; bei der
Zusammensetzung ist auf eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter und der
geografische Verteilung sowie auf multidisziplinäres Fachwissen zu achten. Die
Mitglieder werden unter von den Vertragsparteien ernannten Kandidatinnen und
Kandidaten vom Ausschuss der Vertragsparteien für eine Amtszeit von vier Jahren,
die einmal verlängert werden kann, gewählt und unter den Staatsangehörigen der
Vertragsparteien ausgewählt.
3 Die erstmalige Wahl von 10 Mitgliedern findet innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten
dieses Übereinkommens statt. Die Wahl von fünf zusätzlichen Mitgliedern
findet nach der 25. Ratifikation oder dem 25. Beitritt statt.
4 Für die Wahl der GREVIO-Mitglieder gelten folgende Grundsätze:
a. sie werden in einem transparenten Verfahren aus einem Kreis von Personen
mit hohem sittlichen Ansehen ausgewählt, die über anerkannte Fachkenntnisse
auf dem Gebiet der Menschenrechte, der Gleichstellung von Frauen
und Männern, der Gewalt gegen Frauen und der häuslichen Gewalt oder der
Unterstützung und des Schutzes von Opfern oder über Berufserfahrung in
den von diesem Übereinkommen erfassten Bereichen verfügen;
b. die GREVIO-Mitglieder müssen unterschiedliche Staatsangehörigkeiten besitzen;
c. sie sollen die hauptsächlichen Rechtssysteme vertreten;
d. sie sollen einschlägige Akteure und Stellen auf dem Gebiet der Gewalt gegen
Frauen und der häuslichen Gewalt vertreten;
e. sie gehören der GREVIO in ihrer persönlichen Eigenschaft an, sind unabhängig
und unparteiisch bei der Ausübung ihres Amtes und stehen zeitlich in
einem Umfang zur Verfügung, der ihnen die wirksame Wahrnehmung ihrer
Aufgaben erlaubt.
5 Das Wahlverfahren für die GREVIO-Mitglieder wird vom Ministerkomitee des
Europarats nach Konsultationen mit den Vertragsparteien und deren einhelliger
Zustimmung innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten dieses Übereinkommens
festgelegt.
6 Die GREVIO gibt sich eine Geschäftsordnung.
7 Die GREVIO-Mitglieder und andere Mitglieder von Delegationen, welche die in
Artikel 68 Absätze 9 und 14 festgelegten Länderbesuche durchführen, geniessen die
im Anhang dieses Übereinkommens festgelegten Vorrechte und Immunitäten. Art. 67 Ausschuss der Vertragsparteien
1 Der Ausschuss der Vertragsparteien besteht aus den Vertreterinnen beziehungsweise
Vertretern der Vertragsparteien des Übereinkommens.
2 Der Ausschuss der Vertragsparteien wird vom Generalsekretär des Europarats
einberufen. Sein erstes Treffen wird innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieses
Übereinkommens zur Wahl der GREVIO-Mitglieder abgehalten. Danach tritt er
immer dann zusammen, wenn ein Drittel der Vertragsparteien, der Vorsitzende des
Ausschusses der Vertragsparteien oder der Generalsekretär dies verlangt.
3 Der Ausschuss der Vertragsparteien gibt sich eine Geschäftsordnung.
Art. 68 Verfahren
1 Die Vertragsparteien legen dem Generalsekretär des Europarats auf der Grundlage
eines von der GREVIO ausgearbeiteten Fragebogens einen Bericht über gesetzgeberische
und sonstige Massnahmen zur Umsetzung dieses Übereinkommens zur Prü-
fung durch die GREVIO vor.
2 Die GREVIO prüft den nach Absatz 1 vorgelegten Bericht mit den Vertretern der
betreffenden Vertragspartei.
3 Spätere Bewertungsverfahren werden in Runden eingeteilt, deren Dauer von der
GREVIO festgelegt wird. Zu Beginn jeder Runde wählt die GREVIO die Bestimmungen
aus, auf die sich das Bewertungsverfahren jeweils bezieht und versendet
einen Fragebogen.
4 Die GREVIO bestimmt die geeigneten Mittel zur Durchführung dieses Überwachungsverfahrens.
Sie kann insbesondere einen Fragebogen für jede Bewertungsrunde
beschliessen, der als Grundlage für das Verfahren zur Bewertung der Durchführung
durch die Vertragsparteien dient. Dieser Fragebogen wird an alle
Vertragsparteien gesandt. Die Vertragsparteien beantworten den Fragebogen sowie
jedes sonstige Informationsersuchen von der GREVIO.
5 Die GREVIO kann Informationen über die Durchführung des Übereinkommens
von nichtstaatlichen Organisationen und der Zivilgesellschaft sowie von nationalen
Institutionen für den Schutz der Menschenrechte erhalten.
6 Die GREVIO berücksichtigt die bei anderen regionalen und internationalen Einrichtungen
und Stellen vorhandenen verfügbaren Informationen in Bereichen, die in
den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallen gebührend.
7 Beim Beschluss des Fragebogens für jede Bewertungsrunde berücksichtigt
GREVIO gebührend die in den Vertragsparteien vorhandenen Datensammlungen
und Forschungsarbeiten, wie sie in Artikel 11 genannt werden.
8 Die GREVIO kann Informationen über die Durchführung des Übereinkommens
vom Menschenrechtskommissar des Europarats, von der Parlamentarischen Versammlung
und einschlägigen spezialisierten Organen des Europarats sowie von den
aufgrund anderer völkerrechtlicher Übereinkünfte eingerichteten Organen erhalten.
Bei diesen Organen eingereichte Beschwerden und deren Ergebnisse werden der
GREVIO zur Verfügung gestellt.
9 Unterstützend kann die GREVIO in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden
und mit Unterstützung unabhängiger nationaler Fachleute Länderbesuche durchführen,
wenn die gewonnenen Informationen unzureichend sind, oder in den in Absatz
14 genannten Fällen. Während dieser Besuche kann die GREVIO die Unterstützung
von auf bestimmte Bereiche spezialisierten Personen in Anspruch nehmen.
10 Die GREVIO erstellt einen Berichtsentwurf mit ihrer Analyse der Durchführung
der Bestimmungen, auf die sich die Bewertung bezieht, sowie mit ihren Anregungen
und Vorschlägen zum Umgang der betreffenden Vertragspartei mit den festgestellten
Problemen. Der Berichtsentwurf wird der Vertragspartei, die Gegenstand der
Bewertung ist, zur Stellungnahme übermittelt. Die GREVIO berücksichtigt die
Stellungnahme beim Beschluss des Berichts.
11 Auf der Grundlage aller erhaltenen Informationen und der Stellungnahmen der
Vertragsparteien beschliesst die GREVIO ihren Bericht und ihre Schlussfolgerungen
bezüglich der von der betreffenden Vertragspartei zur Durchführung dieses Übereinkommens
getroffenen Massnahmen. Dieser Bericht und die Schlussfolgerungen
werden der betreffenden Vertragspartei und dem Ausschuss der Vertragsparteien
übermittelt. Der Bericht und die Schlussfolgerungen von der GREVIO werden
veröffentlicht, sobald sie beschlossen sind, gegebenenfalls mit einer Stellungnahme
der betreffenden Vertragspartei.
12 Unbeschadet des Verfahrens nach den Absätzen 1–8 kann der Ausschuss der
Vertragsparteien auf der Grundlage des Berichts und der Schlussfolgerungen der
GREVIO Empfehlungen an diese Vertragspartei aussprechen, die:
a. die Massnahmen betreffen, die zu ergreifen sind, um die Schlussfolgerungen
der GREVIO umzusetzen, erforderlichenfalls unter Festsetzung eines Termins,
zu dem Informationen über die Umsetzung vorzulegen sind, und
b. darauf abzielen, die Zusammenarbeit mit der Vertragspartei zu fördern, um
die ordnungsgemässe Durchführung dieses Übereinkommens sicherzustellen.
13 Erhält die GREVIO verlässliche Informationen, die auf eine Situation hindeuten,
in der Probleme die unmittelbare Aufmerksamkeit erfordern, um das Ausmass oder
die Anzahl schwerer Verstösse gegen das Übereinkommen zu verhüten oder zu
begrenzen, so kann sie die dringliche Vorlage eines Sonderberichts über Massnahmen
verlangen, die zur Verhütung eines Musters schwerer, verbreiteter oder dauerhafter
Gewalt gegen Frauen getroffen wurden.
14 Unter Berücksichtigung der von der betreffenden Vertragspartei vorgelegten
Informationen sowie sonstiger ihr verfügbarer verlässlicher Informationen kann die
GREVIO eines oder mehrere ihrer Mitglieder beauftragen, eine Untersuchung
durchzuführen und ihr schnellstmöglich zu berichten. Die Untersuchung kann,
sofern gerechtfertigt und mit Zustimmung der betreffenden Vertragspartei, einen
Besuch in ihrem Hoheitsgebiet umfassen.
15 Nach Prüfung der Ergebnisse der Untersuchung nach Absatz 14 übermittelt die
GREVIO diese Ergebnisse der betreffenden Vertragspartei und gegebenenfalls dem
Ausschuss der Vertragsparteien sowie dem Ministerkomitee des Europarats mit allen
Stellungnahmen und Empfehlungen.
Art. 69 Allgemeine Empfehlungen
Die GREVIO kann gegebenenfalls allgemeine Empfehlungen für die Durchführung
dieses Übereinkommens beschliessen.
Art. 70 Beteiligung der Parlamente an der Überwachung
1 Die nationalen Parlamente werden eingeladen, sich an der Überwachung der zur
Durchführung dieses Übereinkommens getroffenen Massnahmen zu beteiligen.
2 Die Vertragsparteien übermitteln die Berichte der GREVIO ihren nationalen Parlamenten.
3 Die Parlamentarische Versammlung des Europarats wird eingeladen, regelmässig
eine Bilanz der Durchführung dieses Übereinkommens zu ziehen.
Art. 71 Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Übereinkünften
künften unberührt, denen die Vertragsparteien dieses Übereinkommens jetzt oder
künftig als Vertragsparteien angehören und die Bestimmungen zu durch dieses
Übereinkommen geregelten Fragen enthalten.
2 Die Vertragsparteien dieses Übereinkommens können untereinander zwei-oder
mehrseitige Übereinkünfte über Fragen schliessen, die in diesem Übereinkommen
geregelt sind, um seine Bestimmungen zu ergänzen oder zu verstärken oder die
Anwendung der darin enthaltenen Grundsätze zu erleichtern.
Art. 72 Änderungen
1 Jeder Änderungsvorschlag einer Vertragspartei zu diesem Übereinkommen wird an
den Generalsekretär des Europarats übermittelt, der ihn an die Mitgliedstaaten des
Europarats, jeden Unterzeichner, jede Vertragspartei, die Europäische Union und
jeden nach Artikel 75 zur Unterzeichnung des Übereinkommens und jeden nach
Artikel 76 zum Beitritt zu dem Übereinkommen eingeladenen Staat weiterleitet.
2 Das Ministerkomitee des Europarats prüft den Änderungsvorschlag und kann nach
Konsultation der Vertragsparteien des Übereinkommens, die nicht Mitglieder des
Europarats sind, die Änderung mit der in Artikel 20 Buchstabe d der Satzung des
Europarats vorgesehenen Mehrheit beschliessen.
3 Der Wortlaut jeder vom Ministerkomitee nach Absatz 2 beschlossenen Änderung
wird den Vertragsparteien zur Annahme übermittelt.
4 Jede nach Absatz 2 beschlossene Änderung tritt am ersten Tag des Monats in
Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von einem Monat nach dem Tag folgt, an dem alle
Vertragsparteien dem Generalsekretär mitgeteilt haben, dass sie sie angenommen
haben.
Art. 73 Auswirkungen dieses Übereinkommens
Dieses Übereinkommen berührt nicht das innerstaatliche Recht und bindende völkerrechtliche
Übereinkünfte, die bereits in Kraft sind oder in Kraft treten können
und nach denen Personen bei der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen und häuslicher Gewalt günstigere Rechte gewährt werden oder gewährt
werden würden. Art. 74 Beilegung von Streitigkeiten
1 Die an einer Streitigkeit über die Anwendung oder Auslegung dieses Übereinkommens
beteiligten Parteien versuchen zunächst, diese mittels eines Vergleichs-,
Schlichtungs-, oder Schiedsverfahrens oder einer sonstigen Methode der friedlichen
Beilegung von Streitigkeiten, die in gegenseitigem Einvernehmen zwischen ihnen
vereinbart wird, beizulegen.
2 Das Ministerkomitee des Europarats kann Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten
einführen, die von den an einer Streitigkeit beteiligten Parteien genutzt werden
können, sofern sie dies vereinbart haben.
Art. 75 Unterzeichnung und Inkrafttreten
1 Dieses Übereinkommen liegt für die Mitgliedstaaten des Europarats, für Nichtmitgliedstaaten,
die sich an der Ausarbeitung des Übereinkommens beteiligt haben, und
für die Europäische Union zur Unterzeichnung auf.
2 Dieses Übereinkommen bedarf der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung. Die
Ratifikations-, Annahme- oder Genehmigungsurkunden werden beim Generalsekretär
des Europarats hinterlegt.
3 Dieses Übereinkommen tritt am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen
Zeitabschnitt von drei Monaten nach dem Tag folgt, an dem zehn Unterzeichner,
darunter mindestens acht Mitgliedstaaten des Europarats, nach Absatz 2 ihre Zustimmung
ausgedrückt haben, durch das Übereinkommen gebunden zu sein.
4 Drückt ein in Absatz 1 genannter Staat oder die Europäische Union seine oder ihre
Zustimmung, durch dieses Übereinkommen gebunden zu sein, später aus, so tritt es
für ihn oder sie am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von
drei Monaten nach dem Tag der Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme- oder
Genehmigungsurkunde folgt.
Art. 76 Beitritt zum Übereinkommen
1 Nach Inkrafttreten dieses Übereinkommens kann das Ministerkomitee des Europarats
nach Konsultation der Vertragsparteien des Übereinkommens und mit deren
einhelliger Zustimmung jeden Nichtmitgliedstaat des Europarats, der sich nicht an
der Ausarbeitung des Übereinkommens beteiligt hat, einladen, dem Übereinkommen
beizutreten; der Beschluss dazu wird mit der in Artikel 20 Buchstabe d der Satzung
des Europarats19 vorgesehenen Mehrheit und mit einhelliger Zustimmung der Vertreter
der Vertragsparteien, die Anspruch auf einen Sitz im Ministerkomitee haben,
gefasst.
2 Für jeden beitretenden Staat tritt das Übereinkommen am ersten Tag des Monats in
Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Hinterlegung der Beitrittsurkunde
beim Generalsekretär des Europarats folgt.
Art. 77 Räumlicher Geltungsbereich
1 Jeder Staat oder die Europäische Union kann bei der Unterzeichnung oder bei der
Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde
einzelne oder mehrere Hoheitsgebiete bezeichnen, auf die dieses Übereinkommen
Anwendung findet.
2 Jede Vertragspartei kann danach jederzeit durch eine an den Generalsekretär des
Europarats gerichtete Erklärung die Anwendung dieses Übereinkommens auf jedes
weitere in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet erstrecken, für dessen internationale
Beziehungen sie verantwortlich ist oder in dessen Namen Verpflichtungen
einzugehen sie ermächtigt ist. Das Übereinkommen tritt für dieses Hoheitsgebiet am
ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach
Eingang der Erklärung beim Generalsekretär folgt.
3 Jede nach den Absätzen 1 und 2 abgegebene Erklärung kann in Bezug auf jedes
darin bezeichnete Hoheitsgebiet durch eine an den Generalsekretär des Europarats
gerichtete Notifikation zurückgenommen werden. Die Rücknahme wird am ersten
Tag des Monats wirksam, der auf einen Zeitabschnitt von drei Monaten nach Eingang
der Notifikation beim Generalsekretär folgt.
Art. 78 Vorbehalte
1 Mit Ausnahme der Vorbehalte nach den Absätzen 2 und 3 sind Vorbehalte zu
diesem Übereinkommen nicht zulässig.
2 Jeder Staat oder die Europäische Union kann bei der Unterzeichnung oder bei der
Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde
durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung erklären, dass
er beziehungsweise sie sich das Recht vorbehält, die in den folgenden Artikeln
enthaltenen Vorschriften nicht oder nur in bestimmten Fällen oder unter bestimmten
Bedingungen anzuwenden:
– Artikel 30 Absatz 2;
– Artikel 44 Absatz 1 Buchstabe e und Artikel 44 Absätze 3 und 4;
– Artikel 55 Absatz 1 in Hinblick auf Artikel 35 bezüglich Vergehen;
– Artikel 58 in Hinblick auf die Artikel 37, 38 und 39;
– Artikel 59.
3 Jeder Staat oder die Europäische Union kann bei der Unterzeichnung oder bei der
Hinterlegung der Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde
durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Erklärung erklären, dass
er beziehungsweise sie sich das Recht vorbehält, für die in den Artikeln 33 und 34
genannten Handlungen nichtstrafrechtliche Sanktionen anstelle von strafrechtlichen
Sanktionen vorzusehen.
4 Jede Vertragspartei kann einen Vorbehalt durch eine an den Generalsekretär des
Europarats gerichtete Erklärung ganz oder teilweise zurücknehmen. Diese Erklärung
wird mit ihrem Eingang beim Generalsekretär wirksam.
Art. 79 Gültigkeit und Prüfung der Vorbehalte
1 Die in Artikel 78 Absätze 2 und 3 genannten Vorbehalte sind für einen Zeitraum
von fünf Jahren nach dem Tag des Inkrafttretens dieses Übereinkommens für die
betreffende Vertragspartei gültig. Solche Vorbehalte können jedoch für Zeiträume
der gleichen Dauer verlängert werden.
2 Achtzehn Monate vor Ablauf des Vorbehalts setzt der Generalsekretär des Europarats
die betreffende Vertragspartei darüber in Kenntnis. Spätestens drei Monate vor
Ablauf des Vorbehalts notifiziert die Vertragspartei dem Generalsekretär, ob sie
diesen Vorbehalt aufrechterhält, ändert oder zurücknimmt. Ohne Notifikation seitens
Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. BBl 2017
Übereink. des Europarats
313
der betreffenden Vertragspartei unterrichtet der Generalsekretär diese Vertragspartei
darüber, dass ihr Vorbehalt als automatisch um einen Zeitraum von sechs Monaten
verlängert angesehen wird. Versäumt es die betreffende Vertragspartei, vor Ablauf
dieses Zeitraums ihre Absicht, ihren Vorbehalt aufrechtzuerhalten oder zu ändern,
zu notifizieren, so führt dies dazu, dass der Vorbehalt erlischt.
3 Bringt eine Vertragspartei nach Artikel 78 Absätze 2 und 3 einen Vorbehalt an, so
stellt sie vor dessen Verlängerung oder auf Anfrage der GREVIO eine Erklärung zu
den Gründen, die eine Fortsetzung des Vorbehalts rechtfertigen, zur Verfügung.
Art. 80 Kündigung
1 Jede Vertragspartei kann dieses Übereinkommen jederzeit durch eine an den
Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation kündigen.
2 Die Kündigung wird am ersten Tag des Monats wirksam, der auf einen Zeitabschnitt
von drei Monaten nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär folgt.
Art. 81 Notifikation
Der Generalsekretär des Europarats notifiziert den Mitgliedstaaten des Europarats,
den Nichtmitgliedstaaten, die sich an der Ausarbeitung dieses Übereinkommens
beteiligt haben, jedem Unterzeichner, jeder Vertragspartei, der Europäischen Union
und jedem zum Beitritt zu diesem Übereinkommen eingeladenen Staat:
a. jede Unterzeichnung;
b. jede Hinterlegung einer Ratifikations-, Annahme-, Genehmigungs- oder Beitrittsurkunde;
c. jeden Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Übereinkommens nach den Artikeln
75 und 76;
d. jede nach Artikel 72 beschlossene Änderung sowie den Zeitpunkt, zu dem
sie in Kraft tritt;
e. jeden Vorbehalt und jede Rücknahme eines Vorbehalts nach Artikel 78;
f. jede Kündigung nach Artikel 80;
g. jede andere Handlung, Notifikation oder Mitteilung im Zusammenhang mit
dem Übereinkommen.
Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig befugten Unterzeichneten dieses Übereinkommen
unterschrieben.
Geschehen zu Istanbul am 11. Mai 2011 in englischer und französischer Sprache,
wobei jeder Wortlaut gleichermassen verbindlich ist, in einer Urschrift, die im
Archiv des Europarats hinterlegt wird. Der Generalsekretär des Europarats übermittelt
allen Mitgliedstaaten des Europarats, den Nichtmitgliedstaaten, die sich an der
Ausarbeitung dieses Übereinkommens beteiligt haben, der Europäischen Union und allen zum Beitritt zu dem Übereinkommen eingeladenen Staaten beglaubigte Abschriften.